2015 darf sich nicht wiederholen...

… das ist der Satz den wir allenthalben von den Politikern zu hören bekommen, seit Mitte August Kabul und damit ganz Afghanistan in die Hände der Taliban gefallen ist. 2015 darf sich nicht wiederholen. Die AfD wiederholt das pausenlos wie ein Mantra. Aber auch Laschet von der CDU sagt das und Scholz von der SPD sagt ebenso: 2015 darf sich nicht wiederholen.

 

Gemeint ist damit: Nie wieder soll es geschehen, dass wir Deutschen, wir Europäer in großer Zahl von Krieg, Folter Hungersnot und Tod bedrohte Menschen bei uns aufnehmen. Die Flüchtlinge ins Land zu lassen, das war ein Fehler damals, diese Humanität können oder wollen wir uns nicht noch einmal leisten.

 

Einmal davon abgesehen, wie man diesen angstgetriebenen Satz als Christ moralisch bewerten mag, ich denke vor allem an meine Schülerinnen und Schüler, von denen ein Großteil zu den 2015 Angekommenen gehört. Ich denke an jene, die inzwischen studieren, an die Abiturienten, an die Azubis und an die Kleineren, die eben aufs Gymnasium bzw. die Oberschule gewechselt sind. Ihnen allen plärren die deutschen Politiker entgegen: 2015 darf sich nicht wiederholen!

 

Für die jungen Syrer und Afghanen bedeutet das: „Eigentlich ist es ein Fehler, ein politischer Betriebsunfall, dass Ihr hier seid. Es ist uns egal, wie sehr ihr Euch bemüht hier Euren Platz zu finden, wir sprechen nicht zu Euch sondern nur zu den deutschen Wahlberechtigten und die hören in ihrer Mehrheit am liebsten: Keine Afghanen und Araber mehr.“

 

Dass sich Menschen, die es vor Jahren nach Europa geschafft haben, um ihre in Afghanistan zurückgebliebenen Angehörigen sorgen und spätestens nach der Machtübernahme der Taliban alles versuchen, Familienmitglieder nachzuholen, dafür fehlt nicht nur Politikern das Verständnis: 2015 darf sich nicht wiederholen. Das ist die Hauptsache aus der deutschen oder europäischen Perspektive. Das weiß jeder, der gelernt hat, die Nachrichten auf Deutsch zu verfolgen.

 

Viele Deutsche wissen aber noch immer nicht, warum Menschen fliehen müssen (oder besser gesagt: sie wollen es nicht wissen). Deshalb zur Auffrischung des Gedächtnisses zwei Beispiele aus den Familien unserer Schülerschaft, was Taliban-Herrschaft bedeutet: Die Taliban besetzen eine Stadt im Westen des Landes. Alles läuft für deren Verhältnisse recht friedlich ab. Nur ein, zwei Dutzend junge Männer, die zu Familien gehören, die seit Jahren erklärte Gegner der Radikalislamisten sind, werden gefangen genommen und zur Abschreckung auf offener Straße erschossen. Der jüngste der Ermordeten war der 18jährige Cousin einer unserer Mitschülerinnen.

 

Ein anderer Verwandter war Polizeioffizier unter der alten afghanischen Regierung. Ein weiterer Todeskandidat. Aber ein hoher Taliban hat ein Auge auf seine Schwester geworfen. Er schlägt der Familie einen Deal vor: die Schwester als Zweitfrau gegen das Leben des Polizisten. Vom jüngeren Bruder der beiden, der schon in Leipzig lebt, verlangen die Taliban die Zustimmung. Auch das ist Globalisierung. Nicht mal auf die Liste der deutschen Botschaft hatte es der Polizist geschafft, er hatte ja nicht für die Bundeswehr gearbeitet.

Wo wir stehen...

 ...2015 darf sich nicht wiederholen. – Dieser Satz ist Quatsch, denn Geschichte wiederholt sich nicht. Jede Zeit und jedes Jahr hat seine eigenen Bedingungen und Herausforderungen. Wahr ist freilich, dass Deutschland und Europa nach wie vor Ziele vieler Migrationsbewegungen sind und bleiben werden. Wahr ist auch, dass die Abschottung mittels Grenzbefestigung oder Ablenkung von Flüchtlingen in Lager außerhalb der EU nur teilweise und für begrenzte Zeit funktionieren wird. Nolens volens werden wir Europäer stets und ständig daran zu arbeiten haben, dass Leute, die hier neu ankommen, die Sprache lernen und einen Platz bei uns finden, wo sie ihren Lebensunterhalt verdienen und etwas zum Gemeinwesen beitragen können. Das zu akzeptieren und sich dafür zu engagieren ist keine Gefühlsduselei angeblicher Gutmenschen, sondern schiere Notwendigkeit, wenn wir unsere bisherige Lebensweise erhalten wollen.

 

Integration & Bildung fragt nicht nach Nachrichtentrends oder politischen Konjunkturen. So wie nach 2015 der Syrienkrieg und seine Folgen wieder aus den Medien und aus den Debatten des Bundestags verschwunden sind, so werden auch Afghanistan, die Taliban und deren Opfer bald wieder in den Hintergrund der Berichterstattung und des Diskurses treten. Aber immer kommen Menschen in Leipzig an, wollen Deutsch lernen, einen Schulabschluss machen und eine Ausbildung beginnen, oder werden von der Bürokratie gequält, von Rassisten gemobbt, geraten sonst wie in Schwierigkeiten. Das war 2015 so ist 2021 noch immer so. Bei alledem versuchen wir zu helfen, jeder kann zu uns kommen, ohne dass wir nach Religionszugehörigkeit, Nationalität oder Aufenthaltsstatus fragen. Auch daran hat sich in den vergangenen sechs Jahren nichts geändert.

 

Wir glauben, dass Integration und geeignete Bildungsangebote für Migranten eine permanente Aufgabe in unserer weit entwickelten Gesellschaft sind. Wir müssen einfach damit rechnen, dass immer irgendwie neue Leute kommen werden, ganz gleich wie hoch die Stacheldrahtzäune in Polen oder Ungarn noch gezogen werden. Das ist wie mit Schulanfängern, da gibt es auch jedes Jahr einen neuen Jahrgang und niemand würde in Frage stellen, dass man sich Jahr für Jahr ums Lesen und Schreiben lernen dieser jungen Menschen kümmern muss.

 

Bosnienkrieg 1992-1995, Kosovokrieg 1998/99, Irakkrieg 2003, Bürgerkrieg in Syrien seit 2011 oder in Libyen seit 2014 und jetzt eben der Fall von Kabul im August – seit ich die Reaktionen auf Migration auslösende Krisen in meiner Heimat beobachte gilt: selten waren Sachsen und die hiesigen Kommunen gut darauf vorbereitet, immer kam es auf die Mithilfe des nicht ausländerfeindlichen Teils der Zivilgesellschaft an. Genau deshalb ist „Integration & Bildung“ 2015 entstanden, deshalb ist der Verein auch 2021 noch notwendig und seine Ehrenamtlichen haben mehr Arbeit, als sie bewältigen können. Und wenn wir genügend Unterstützung bekommen, werden wir auch in 10 Jahren wieder eine neue Generation von Schülerinnen und Schülern zur mittleren Reife oder zum Abitur begleiten.

Hier in Deutschland sind unsere Schülerinnen frei: Impressionen von von der diesjährigenn Sommer-Exkursion nach Halle zur Himmelsscheibe.